Hämatokrit - das unbekannte Wesen

Der Hämatokritwert beschreibt die Summe der festen Bestandteile im Blut. Gemessen wird er in Prozent, bezogen auf alle Bestandteile des Blutes. Mit der Zunahme dieses Wertes steigt die Viskosität des Blutes. Ist diese zu hoch, drohen, insbesondere bei körperlichen Belastungen, akute gesundheitliche  Schäden. Bei Einnahme des Nierenmedikamentes EPO zur unerlaubten Leistungssteigerung, speziell in Ausdauersportarten, kommt es zu einer Erhöhung der Viskosität. Da der EPO-Missbrauch bislang noch nicht nachweisbar ist, wird im Radsport bei Wettkampf-kontrollen mittels Blutanalyse der Hämatokritwert gemessen. Derzeit hat der Weltradsport-Verband, UCI, einen Hämatokritwert von 50 Prozent als maximal zulässigen festgesetzt. In der mitteleuropäischen Bevölkerung liegt der Normwert bei etwa 45 Prozent oder darunter. Bei längeren sportlichen Belastungen fällt der Wert deutlich: Eine Art körperlicher Schutzmechanismus. Radsportler, bei denen ein höherer Wert als 50 festgestellt wird, werden sofort nach Messung mit einer medizinischen Schutzsperre von zwei Wochen belegt, in denen keine Wettkämpfe bestritten werden dürfen. Dieser Höchswert wird von Wissenschaftsseite kontrovers diskutiert. Ein Überschreiten gilt nicht als
Dopingvergehen, wird aber in zunehmendem Maße so interpretiert. In diesem Jahr wurde anlässlich einer Leistungsdiagnostik in der sportmedizinischen Abteilung der Universitätsklinik Freiburg bei einem deutschen Radprofi ein Hämatokritwert gemessen, der über 50 Prozent lag. Ärztlicher Direktor dieser Abteilung ist Professor Josef Keul. Tatsache ist auch, dass dieser Sportler in den zwei Wochen nach dieser Messung Wettkämpfe bestritten hat. Die Untersuchungsergebnisse aus Freiburg wurden schnellstmöglich per Fax übermittelt und erreichten den Radprofi über einen Umweg am Wettkampfort: Freiburger Frühwarnsystem? Professor Keul weiß in einer schriftlichen Stellungnahme nichts von einem derartigen Fall. Außerhalb eines Wettkampfes gemessen, sei er auch nicht meldepflichtig. Keul weiß auch nicht, wie viele deutsche Radsportler im Besitz des Attestes der UCI sind. Er schätzt, dass es drei bis fünf sind. Dieses Attest, so Keul weiter, werde ausschließlich nach einer Untersuchung an der Universität in Lausanne erteilt. Wissenschaftliche Begründung sei die Tatsache, dass etwa 5 Prozent der Bevölkerung einen natürlichen Hämatokritwert von über 50 Prozent hätten. Wie immer im Radsport laufen alle Fäden in Lausanne, dem Sitz der UCI, zusammen und bilden auch in diesem Fall ein undurchsichtiges und undurchdringliches Netz. Auch Professor Dirk Clasing, Mediziner der Anti-Doping-Kommission, ADK, des Deutschen Sportbundes erklärt, er wisse von Radsportlern, die ein solches Attest besitzen nur durch die Medien. Anlässlich der A-Trainer-Fortbildung des "Bund Deutscher Radfahrer", BDR, wurden die Teilnehmer vom Lehrgangs-leiter und Referenten für wissenschaftliche Fragen im BDR, Prof. Dr. Dietmar Junker mit ganz anderen Zahlen konfrontiert: Junker habe man offiziell die Zahl von 15 bis 16 deutschen Radsportlern genannt, die ein Attest der UCI besäßen. Die Begründung, dass eine derartige Anomalie bei etwa 5 Prozent der Bevölkerung auftritt, erscheint bei diesen Zahlen mehr als dürftig. Zumal die Gruppe der Ausdauersportler nur ein Segment der Gesamtbevölkerung darstellt. Der Bund Deutscher Radfahrer war bislang bislang zu keiner Stellungnahme bereit. Man erkennt wieder eine der vielen Lücken und Ungereimtheiten im selbst aufgestellten Regelwerk des Radsports.Die beteiligten Mediziner müssen sich allerdings die Frage gefallen lassen, welchen Sinn eine medizinische Schutzsperre erfüllen soll, wenn Sportler mit zu hohem Wert an Rennen teilnehmen können. Zumal gerade die Sportmedizin in Freiburg sich offiziell um die Gesundheit der Radsportler bemüht. Von ihrem Engagement gegen Doping einmal ganz abgesehen. Das Fehlen jeglicher Transparenz in einem derart sensiblen Bereich, auch bezogen auf bestehende Regularien und medizinische Atteste, führt den Anti-Doping-Kampf  des Radsports ad absurdum. Und darunter müssen nicht zuletzt die Sportler selbst leiden.

Ralf Meutgens © 1999 Ralf Meutgens - Am Mühlweg 35 - 36166 Haunetal 
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